Johann Ludwig Konrad Allendorf und sein Lied "Jesus ist kommen"



Versuch einer Aneignung im Jahre 2002

Johann Ludwig Konrad Allendorf ist ein Sohn Josbachs - ohne Zweifel einer der berühmteren, wenn nicht gar der berühmteste. Der Josbacher Zweig der Adelsfamilie von Riedesel war in männlicher Linie mit Johann Riedesel bereits in der Reformationszeit ausgestorben. Als Gottesdienst haltender Pfarrer saß ich, bevor ich die Stufen der Kanzel emporstieg, immer vor seinem von Philipp Soldan gefertigten Grabstein in der Josbacher Kirche. Johanns spätere Vettern in Eisenbach/Lauterbach haben sich nach der Devise "noblesse oblige" verhalten, als sie zur Kirchenrenovierung im Jahre 1969 einen namhaften Geldbetrag spendeten. Doch zurück zu Allendorf: auch im gerade erst begonnenen neuen Jahrtausend vergeht kein Kirchenjahr, genauer gesagt: keine Epiphanias-Zeit, in der nicht ungezählte deutschsprachige evangelische Christen singen:

Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude,
A und O, Anfang und Ende steht da.
Gottheit und Menschheit vereinen sich beide;
Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah!
Himmel und Erde, erzählet's den Heiden:
Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden.

Als ehemaliger Gemeindepfarrer in Josbach (1965-1972) erarbeite ich diese kleine Abhandlung in der Hoffnung, bei der Feier des 250. Kirchenjubiläums am 20. Mai 2002 zu erfahren, ob der Vater Allendorf noch an dem Neubau beteiligt war. Wenn dieses auch trotz damaliger Nicht-Pensionierung aus Altersgründen unwahrscheinlich ist, so wäre es durchaus denkbar, daß Johann Ludwig Konrad als 59-jähriger an der Einweihung des neuen Gotteshauses teilgenommen hat. Obwohl nun auch dafür wegen der damaligen Reisebedingungen keine Wahrscheinlichkeit gegeben zu sein scheint. So leicht, wie heute eine Anreise aus dem Elsaß oder aus Württemberg nach Oberhessen durchführbar ist, dürfte das Kommen aus Thüringen nicht möglich gewesen sein. Noch ein drittes einleitendes Gedankenspiel sei angeschlossen: vielleicht wurde bei der Einweihung der Josbacher Kirche im Jahre 1752 das Lied Allendorfs gesungen: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude. Beim Himmelfahrtsgottesdienst im Grünen am Kohlberg wurde zu meiner Zeit, und sicherlich schon lange vorher, immer ein Allendorf-Lied gesungen: "Einer ist König, Immanuel sieget", das im hessischen Anhang des Evangelischen Kirchengesangbuches (EKG) stand. Der Klang der Posaunen trug den Gesang der Gemeinde machtvoll hinein in die "Buchenhallen". Im noch relativ neuen Evangelischen Gesangbuch (EG) ist dieses Lied nicht mehr zu finden; dafür etwa noch in dem ebenfalls ziemlich neuen Gemeinschaftsliederbuch.

Im EG hat von den vielen Allendorf-Liedern überhaupt nur ein einziges überlebt: das von der Freude, das die Nummer 66 trägt. Umso beachtlicher ist die "Karriere" dieses Liedes. Im hessischen Kirchengesangbuch, das vor und zwischen den Weltkriegen in Gebrauch war, ist das Epiphanias-Lied nicht enthalten; ins EKG vom Anfang der fünfziger Jahre wurde es aufgenommen und stand an letzter Stelle unter den Epiphanias-Liedern. Im EG hat es sich dann schließlich den Platz des "Flaggliedes" für diese Zeit erobert. (Zur "Ehre des Wochenliedes" ist es in der Epiphanias - Zeit freilich nicht gekommen.) Doch auch dieser Platz läßt sich noch toppen: im bereits erwähnten neuen Gemeinschaftsliederbuch hat dieses Lied überhaupt die Nummer 1 erhalten. Wenn man den Titel dieses Liederbuches in Betracht zieht: "Jesus unsere Freude", mag das als nicht verwunderlich erscheinen. Dennoch für ein mehr als 250 Jahre altes Lied - so alt wie die Josbacher Kirche - ist das eine steile Karriere! Aus dem Wirtschaftsleben kennt man den Begriff des exponentiellen Wachstums.

Der Weg dieses kleinen Diskurses soll so weitergehen, daß zunächst ein biographischer Teil steht, verbunden mit Liederkundlichem. Dabei geht es um die textliche und musikalische Seite von EG 66. Dem Rückblick an seinem Anfang entspricht ein praktisch-theologischer Ausblick an seinem Ende.

Der etwas vollmundig so genannte biographische Teil kann nur aus einigen groben holzschnittartigen Linien zum Leben Allendorfs bestehen. Wie ein Kind aus dem Pfarrhaus in Josbach aufwächst, dafür habe ich eine Anschauung an meinen eigenen Kindern, die ich so andeuten möchte: frei wie ein Vogel im Wind. Nur einen von vermutlich vielen Unterschieden möchte ich herausstellen: unsere Kinder wuchsen - allerdings nur in ihren frühsten Jahren - in einem neuen und freundlich-hellen Pfarrhaus heran, was u.a. meinem verehrten Vorgänger, Pfarrer Andreas Metzl zu verdanken ist, der den Abriß des alten Hauses und den Neubau mit seiner Familie auf sich nahm, mit allen damit verbundenen Engpässen. Es war jenes Pfarrhaus, in dem Johann Ludwig Konrad Allendorf am 9. Februar 1693 geboren wurde. Schon früh allerdings mußte der Pfarrerssohn aus schulischen Gründen Josbach verlassen. Das Gymnasium in Gießen muß sich eines guten Rufs erfreut haben. Vor allen Dingen aber war die theologische Fakultät der Universität Gießen die Hochburg der lutherischen Orthodoxie. Bereits im Jahre 1711 wurde er dort immatrikuliert. Nach nur zwei Jahren wechselte er die Universität, indem er nach Halle zu August Hermann Francke (1663-1727) ging, dem Gründer des dortigen Waisenhauses und Theologie-Professor an der Universität. Für Allendorf mag das zugleich ein gewisser Wechsel von der Orthodoxie zum Pietismus gewesen sein, ohne daß das freilich im Sinn von absoluten Gegensätzen verstanden werden soll. Nach Beendigung seines Studiums im Jahre 1717 hatte er - wie damals für junge Theologen üblich - Hauslehrerstellen für Kinder von Adligen inne, bevor er 1724 lutherischer Hofprediger in Köthen wurde, um etwa drei Jahrzehnte dort zu bleiben.

Was das Liederdichten anging, war diese Zeit die fruchtbarste in seinem Leben. Eine innige Herzensfreundschaft verband ihn mit dem Theologen Leopold Franz Friedrich Lehr (1709-1744), die sich in einem edlen Wettstreit beim Dichten von neuen geistlichen Liedern äußerte und zur Drucklegung einer mehrbändigen Liedersammlung führte, die als "Cöthnische Lieder" eine schnelle Verbreitung fanden. Die Gesamtzahl der Lieder allein von Allendorf wird mit 133 angegeben. Meist lehnen sich die Dichtungen an ein Wort der heiligen Schrift an. Zu dem Lied, das unser Thema ist, ist angemerkt: "Triumphs=Lied über den gekommenen Heyland der Welt. Joh.3, 31. Der vom Himmel kommt, der ist über alle." (nach Oehler) Das Lied hat in seiner Urfassung 23 Strophen. Interessant ist, wie Allendof dabei ins alttestamentliche Detail geht, wenn er etwa von dem Goel spricht, jenem altisraelitischen Rechtsinstitut, aufgrund dessen der Boas die Ruth heiratete, die so in den Stammbaum Davids gelangten und damit nach Matthäus 1 auch in das Geschlechtsregister Jesu. So heißt der siebente Vers bei Allendorf (nach Oehler):

Jesus ist kommen, mein Goel der lebet.
JESUS, mein blutes-freund nimmt sich mein an.
Feindes-macht vor ihm erzittert und bebet;
Er ist der ihnen gewachsene mann.
Er ists, der mich aus dem staube erhebet,
Jesus ist kommen, mein Goel der lebet.

Johann Ludwig Konrad Allendorf war mit Eva Maria Lafors verheiratet, mit der er mehrere Kinder hatte. Auch Leid blieb der Familie nicht erspart. Der Sohn Gottlob starb früh, bald nach seiner Konfirmation, ebenfalls die zweiundzwanzig-jährige Tochter Friederike Maria Traugott.

Nach einer Zwischenstation von wenigen Jahren in Wernigerode wählte ihn die Ulrich-Gemeinde in Halle zu ihrem Pfarrer. Dort konnte er noch dreizehn Jahre in Segen wirken und hielt "als ein achtzigjähriger Simeon seine friedvolle Heimfahrt, um in Jesu Armen auszuruhen" (nach Koch).

Vor mir liegt das Faksimile des reich verzierten Titelblattes einer Ausgabe "Der Cöthnischen Lieder Erster und Anderer Theil zum Lobe des Dreyeinigen GOTTES und zu gewünschter reicher Erbauung vieler Menschen ...", das ca. 1760 in Reutlingen gedruckt ist (nach Oehler). Was auffällt: weder der Name von Allendorf noch der seines Freundes Lehr erscheinen auf dem Titelblatt. Man wollte zur Ehre Gottes arbeiten. So steht auch auf den Freiseiten jenes Exemplars eine Widmung in kerniger Handschrift aus dem Jahre 1784: Soli Deo Gloria. Noch ein persönliches Detail bezüglich unseres Liederdichters: auf seinem Siegel ist der betende Stephanus dargestellt, der in den offenen Himmel blickt und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen sieht (Apostelgesch.7) - der erste Blutzeuge der Kirche für ihre Botschaft: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude.

Es würde sich wohl lohnen, in eine ausführliche Meditation der einzelnen Verse des Liedes einzutreten - wenn schon nicht der ursprünglichen 23, so doch der neun in EG 66. Der Rahmen dieser Betrachtung erlaubt aber nur die Konzentration auf den ersten Vers. Immerhin hat man darin auch ein Stück aus allen Versen einbegriffen: Jesus ist kommen ... Alle Verse wiederholen das, bevor sie im Detail ausführen, was diese frohe Kunde für uns bedeutet. Und alle Verse wiederholen das auch in ihrer Schlußzeile. Nun findet sich im ersten Vers unseres Liedes auch die größte inhaltliche Konzentration. "Grund ewiger Freude" - das läßt sich nicht mehr überbieten, so wenig wie das A und O, jene umfassende Selbstaussage Gottes aus der Offenbarung des Johannes. Zugleich wird das größte Thema der Weltgeschichte mit den Begriffen des nicänischen Glaubensbekenntnisses angeschlagen: Gott wurde Mensch - Gottheit und Menschheit vereinen sich beide. Und mit dem Schöpfer ist der Anfang von allem präsent, zugleich das so brisante Thema Schöpfung. Mit dem Stichwort "Heiden" sind die Völker angesprochen; einschlußweise ist damit auch nach dem Volk Gottes gefragt. Doch darüber mehr im Schlußteil!

Wenn wir uns nun in der Betrachtung unseres Liedes seiner Singweise zuwenden, dann ist zu bedenken, daß eine Melodie sich nach dem Text richten muß. Es sei denn, daß der schmissigen Musik, etwa eines Schlagers, nachträglich ein Text unterlegt wird. Ich denke, die meisten Besucher eines Epiphanias-Gottesdienstes, in dem EG 66 gesungen wird, wären erstaunt zu erfahren, daß dieses Lied von seinem Anfang an, was seine Melodie angeht, problematisiert wurde. Dazu hat es sogar ein Gutachten der theologischen Fakultät von Wittenberg, der Universität Luthers gegeben, worin gesagt ist: "Bei einem Gesang, der sich auf lutherische Tradition gründet, müssen die Melodien etwas ernsthaftes, andächtiges und gottseliges in sich fassen, nicht aber auf eine leichte und fast liederliche Art weltlicher Gesänge hinauslaufen." (nach Erb) Das ist starker Tobak! Es ist der Vorwurf der Verweltlichung. Man wird sogleich ganz steil entgegen fragen können: Geht es ohne Verweltlichung, wenn Gott Mensch wird? Und hat nicht der selige Johannes XXIII. mit seinem Programm des aggiornamento ein Stück heilsame Verweltlichung der Kirche zum Ziel gehabt?

Doch bleiben wir zunächst mehr beim "Handwerklichen"! Wenn sich unser Lied wie ein schneller Walzer singt, wird man wohl von einem "erwecklichen" Rhythmus sprechen können, der wiederum mit dem Versmaß der Dichtung zusammenhängt. Der Dreier-Rhythmus war in der deutschen Dichtung zuvor eher verpönt. Man liebte mehr die getragenen Rhythmen, schwebend und offen, die in ihrer Hintergründigkeit das Geheimnis der jenseitigen Welt ahnen lassen (Jörg Erb), wie es auch der reformatorische Choral nahebringt. Heute spricht man bei gewissen neuen geistlichen Liedern von "Wohlfühlmusik", wobei man Rhythmik und Melodik sich mitunter verselbständigen sieht, und die Verbindung zu dem Wort verloren zu gehen droht. Ist es in der Kirche vertretbar, daß sich der fromme Mensch selbst zum Thema macht? Eigentlich ist das die uralte Streitfrage zwischen Orthodoxie und Pietismus, zwischen rechter Lehre und rechtem Leben. Nur stellt sich dieses Problem jeweils neu, nämlich in einem gewandelten Lebenszusammenhang. Die Frage ist, ob man noch länger darüber fein theoretisch streiten kann. Im Zeitalter von Gentechnologie und virtuellen Welten sehen wir uns von der Praxis bereits überholt. Erfolgversprechend könnte der Versuch sein, diesen Überholvorgang aus dem zu interpretieren, was unser Lied staunend bekennt: Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah!

Kann aber Interpretation so große Dinge tun? Oder gilt nach wie vor die Forderung von Karl Marx: die Welt nicht interpretieren, sondern verändern!? Diese Formel war im Rahmen des Dialektischen Materialismus in dem Augenblick tot, als Menschenmengen dagegen auftraten mit dem Ruf: Wir sind das Volk! Und dadurch etwas bewegten. Doch als der "sozialistische Schutzwall" gefallen war und dieser Ruf sich in "Wir sind ein Volk!" verwandelte, stellte sich damit zugleich die Forderung: neue Formeln müssen her! Doch diese sind noch nicht gefunden. Man fragt eher, ob sie sich überhaupt finden lassen. Und ließen sie sich finden, ob sie greifen würden und effektiv wären. Etwa: Globalisierung!? Effektiv war der Ruf: Wir sind das Volk! Kann man zu ihm zurückkehren? Oder würde die Repristination im Sand verlaufen? Nun ist es anscheinend so, daß dieser Ruf ein Gegenüber braucht.1989 in Leipzig war es das marode System der DDR. Was ist im "Weltdorf" das Gegenüber? Es kann nur noch der Himmel sein! Wird's jetzt aber nicht ein wenig luftig? Nein! Indem wir der Erde treu bleiben wollen, können wir den Himmel nicht mehr den Spatzen überlassen. Contraria sunt complementaria - Gegensätze erschöpfen sich nicht darin, einander auszuschließen, sondern sie sind Stationen auf dem Weg zum Ganzen. Zuviel des Optimismus? Solange wir noch über Denkformen streiten, hat Gott schon gehandelt. Seine Tat gibt zu unbegrenztem Optimimus Anlaß: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude. Das vermittelt uns die Gelassenheit, es auch einmal mit der Formel "Gottheit und Menschheit vereinen sich beide" im wahrsten Sinne des Wortes gut sein zu lassen und dafür als Äquivalent einzusetzen: Himmel und Erde vereinen sich beide. Wir werden so frei vom Drang, Jesus auf der Erde zu suchen - weder in Wittenberg oder Genf, noch in Rom, Konstantinopel oder Moskau; weder in Washington noch in Brüssel; weder in Indien noch in China. Jesus ist im Himmel und wir sind das Volk auf der Erde. Nicht e i n Volk. Das bleibt eine Hoffnung. Sondern wie es in dem Kinderlied heißt:Du in deiner Ecke, ich in meiner hier! Was wiederum nicht "unverbunden" meint. Oder gar wie bei Kain und Abel ... Sondern genau das Gegenteil:
 

Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
Hilde Domin: Abel steh auf
 

Da kann uns nun wirklich das Interpretieren helfen. Wenn zum Beispiel Christen die Hebräische Bibel nicht gegen, sondern für ihre Erstbesitzer interpretieren, nach dem Motto: die ersten werden die letzten sein - dieses aber nun im Sinne von: wer zuletzt lacht, lacht am besten. Dadurch können Juden gelöst werden, auch in Arabern Kinder Abrahams zu sehen. Christen können gelöst werden, auch im Yin und Yang der Chinesen eine Ausdrucksweise von "Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude" zu erkennen - im Sinne von "Himmel und Erde vereinen sich beide". Und stolze Europäer werden fragen nach dem Wirken des Geistes bei den abschätzig "Animisten" Genannten. "Clash of Civilizations" kann zu einem obsoleten Interpretationsmuster werden.

Wenn wir das "A und O, Anfang und Ende steht da" Gott zurückgeben, wie es in der Offenbarung des Johannes geschieht, dann können wir Jesus getrost auf Seiten Gottes sehen, wie ihn der Märtyrer Stephanus sah, und wie ihn die christliche Gemeinde in ihren Gottesdiensten anbetet. Aber wir müssen das nicht draußen jedermann sagen, egal ob er das hören oder nicht hören will. Nach seiner Auferstehung hat Jesus zu seinen Jüngern gesagt: "Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott", nicht ohne sie zur Mitteilung des heiligen Geistes anzuhauchen und ihnen damit eine neue Identität zu geben. Ihnen gilt nun das "trau dich!": du bist gesalbt mit dem Geist des Christus, des gesalbten Gottes. So wie Gott in der zweiten Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2) Adam, den er aus einem Erdenkloß geformt hatte, den Odem einhauchte, und Adam dann selbständig weiteratmete, so können die mit dem Geist Begabten mit eigenem Namen und eigener Adresse weiterarbeiten. "Handelt bis daß ich wiederkomme!" (Lukas 19, 13) Sie sind zeichnungsberechtigt. Sie haben Prokura. Sie können Gesicht zeigen. Sie glauben an Jesus. Das ist der Nerv ihres Lebens. Aber sie müssen sich nicht andauernd den Puls fühlen und sich fragen oder fragen lassen: Bin ich Jesus? Vielmehr hilft ihnen Jesus, staunend die Frage zu stellen: "Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah!?

"Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie männlich und weiblich (1. Mose 1, 27). Gott schuf den Menschen so, daß er selber Mensch werden konnte. Der Himmel sollte ein menschliches Gesicht bekommen. Aber Gott schuf am Anfang Himmel u n d Erde. Auch den Menschen schuf er dual: männlich und weiblich. Gott schafft göttlich. Der Mensch schafft männlich und weiblich. Ich nenne es die demokratische Differenz. "Und schuf sie als Mann und Frau" - das ist die Urzelle des Volkes Gottes, zugleich das Siegel der Schöpfung Gottes, Gottes "teile und herrsche" - aber nicht niedertretend, sondern aufrichtend: in menschlicher Eigenverantwortung, ja in Eigenschöpfung - selbst schaffend; aber nicht sich selbst.

Nicht nur das demokratische Prinzip sehe ich im Anfang verankert, sondern auch das monarchische: G o t t schuf Himmel und Erde; G o t t schuf den Menschen. "Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel" (Psalm 8, 2). Es gibt ein breites Spektrum von Alleinherrschaft: von David bis zu Jesus; vom INRI bis zum schmachvollen Ende des Dritten Reiches. Doch weil in Jesus gilt: "A und O, Anfang und Ende steht da", soll am Ende das Volk Gottes herrlich sein. Da hat nun die Kirche zuerst ein Wort für Israel. Sie wird zur Hermeneutin für das erste und ursprüngliche Volk Gottes. Ja, sie schlüpft in die Rolle der Freudenbotin Deuterojesajas (Kap. 40) und spricht zu Israel mit den Worten Tritojesajas: "Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir! Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit erscheint über dir. Und die Völker werden in deinem Licht wandeln!" (Kap. 60) Nach Jesaja 53 gibt es für dich Jesaja 60, und für Jesaja 43, 1 bist du und bleibst du die erste Adresse: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!"

Kann so die Kirche Kains zur Freudenbotin für Abel werden? Die Geschichte von Kain und Abel erweist sich am Ende als die verrückteste Schöpfungsgeschichte, die es gab. "A und O, Anfang und Ende steht da" - Alpha-Geschichte wird zu Omega-Geschichte et vice versa - nur Gott vermag so Geschichte zu schreiben. Jesus hat Kains verunglückter Sündenbeherrschung die göttlich gelungene Sündenvergebung entgegengesetzt und dazu seine Kirche berufen:

"Jesus blies sie an und spricht zu ihnen:
Nehmt hin den heiligen Geist!
Welchen ihr die Sünden erlasset,
denen sind sie erlassen;
und welchen ihr sie behaltet,
denen sind sie behalten." (Joh. 20, 22 f.)

Geht es damit nach der Devise: wer das Kreuz hat, segnet sich zuerst!? Nein, bei Gott gibt es kein "Schwamm drüber!" Judas war einer von den zwölf Jüngern Jesu. Er wurde nicht mit dem verschonenden Kainszeichen versehen. Gott hat sich die Unterscheidung zwischen dem Verräter Judas und dem Verleugner Petrus selbst vorbehalten. Für Petrus hat der auferstandene Jesus noch die Entscheidung getroffen (Joh.21). Wie die Entscheidung Gottes für manchen von dessen Nachfolgern und für manchen Getauften, wie etwa Adolf Hitler, aussehen mag, wer macht sich anheischig, darauf eine Antwort zu geben?

Nachdem in Jesus das Königsthema göttlich abgearbeitet und erledigt ist (Jesaja 60, 3b), leuchtet über Israel das Licht, das Tritojesaja bezeugt: "die Völker werden in deinem Lichte wandeln" (Jesaja 60, 3a).

Wir sind den Weg von Genesis 1 bis Jesaja 60 anhand des Allendorf-Liedes von der Freude nachgegangen. Kommen wir dabei allein mit dem Alten Testament aus und brauchen das Neue Testament dazu gar nicht? Der Glaube an Jesus ist der Katalysator für die obigen Ausführungen. Wenn der Geist Jesu am Wirken ist, muß man nicht immerzu über Jesus reden. Mit einer Geschichte von dem Segen Jesu vor Jesus aus der sog. Vorgeschichte des Lukas wollen wir enden. Eine junge jüdische Frau und werdende Mutter wird von einer anderen jüdischen Frau und werdenden Mutter selig gepriesen: Freuen darfst du dich, die du geglaubt hast! (Lukas 1) - eine weibliche Entsprechung zu Abraham, zu dem Gott spricht: Du sollst ein Segen sein! (1. Mose 12) Der Schlußpunkt unseres Nachdenkens über ein zweieinhalb Jahrhunderte altes Lied unseres Gesangbuches soll schließlich mit einem nur wenige Jahrzehnte alten Lied unseres Gesangbuches gesetzt werden, das ein jüdischer Autor geschaffen hat:

Freunde, daß der Mandelzweig
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
daß die Liebe bleibt?

Daß das Leben nicht verging,
soviel Blut auch schreit
achtet dieses nicht gering
in der trübsten Zeit.

Tausende zerstampft der Krieg,
eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg
leicht im Winde weht.

Freunde, daß der Mandelzweig
sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig,
wie das Leben siegt. Schalom Ben-Chorin 1981

Diese Lied-Meditation widme ich den Menschen in der Gemeinde und im Kirchspiel Josbach und ihrem Pfarrer Werner Schiller mit Segenswünschen nach drei Jahrzehnten "Stabübergabe" zur Feier des 250-jährigen Jubiläums der Kirche in Josbach am 20. Mai 2002

Wilhelm Alfred Christian Müller
(eMail: Chrautopoiesis@aol.com)

Benutzte Literatur: Jörg Erb, Dichter und Sänger des Kirchenlieds, Bd. 4, Lahr-Dinglingen, 1978; Wolfgang Herbst, Komponisten und Liederdichter des ev. Gesangbuchs, Handbuch zum EG 1999; Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenlieds ... Band 4, Stuttgart 1868; K.Eberhard Oehler, Allendorf und die Cäthnischen Lieder, Württbg.Blätter für Kirchenmusik 60/1993, S. 44 ff; Ernst Wagner, Die Riedesel zu Josbach, Frankfurt 1965.